Chao-Kang Chung
Eröffnung in der Hachmeister Galerie, Münster, 28.9.2018
Erich Franz
Chao-Kang Chung stammt aus Taiwan und studierte bis 2016 an der
Kunstakademie Münster Malerei und Video. Meines Erachtens ist er
einer der vielversprechendsten Absolventen dieser Akademie. Seit
2011 malt er realistische Bilder in Öl auf Leinwand. Was sie zeigen,
ist also gegenständlich. Man kann alles benennen, was man sieht. Die
Bilder von Chao-Kang Chung stehen in der 500-jährigen Tradition des
europäischen Tafelbildes. Sie sind wie ein Fenster auf etwas
Gegenständliches, das sie im Bild zeigen. Und zugleich durchbrechen
sie diese Tradition und gehen ganz anders vor. Es ist kaum
glaublich, dass das überhaupt möglich ist.
Tatsächlich spüren wir bei Chungs Bildern zunehmende
Schwierigkeiten, unsere ersten Eindrücke festzuhalten. Alles, was
wir zu erkennen meinen, zieht sich immer mehr vor unseren Augen
zurück. Das klingt zunächst rätselhaft. Die Kunst der europäischen
Malerei bestand immer darin, dass der gemalte Anschein der Dinge uns
von ihnen überzeugte.
Dagegen
habe ich als Betrachter der Bilder von Chao-Kang Chung den Eindruck,
dass ich alle Überzeugungen, die ich beim Betrachten zunächst
gewonnen habe, schon sehr bald wieder aufgeben muss. Nichts lässt
sich festhalten. Und das Erstaunliche ist: Trotz all dieser
Auflösung des Sichtbaren – nichts ist erkennbar, nichts ist
feststellbar – trotz all dieser Zerstäubung aller Gegenstände
empfinde ich keine Enttäuschung. Ich bin nicht desillusioniert.
Sondern dieses Verdunsten aller dinglichen Grenzen, diese Aufhebung
aller Unterscheidbarkeit bringt – so geht es mir wenigstens – eine
Erfahrung hervor, die ich als befriedigend empfinde. Die zunehmende,
wenn auch niemals vollständige Auflösung der Gegenstände führt zu
einem Zustand zunehmender Klarheit und sogar zum Eindruck einer
alles durchdringenden Schönheit.
Die
10-teilige Arbeit mit dem Titel Entfernter Anblick von Flüssen
und Bergen gibt ein berühmtes Meisterwerk chinesischer
Tuschemalerei wieder, die im 12. Jahrhundert auf einer langen
Papierrolle gemalt wurde. Sie gibt sie allerdings – das sieht man
sofort – nur andeutungsweise wieder, nur als eine Ahnung. Wir sehen
zwei Reihen von 10 Bildern. Eigentlich sind es keine ganz realen
Bildtafeln, sondern eher Illusionen von Bildern, die scheinbar in
die Tiefe fluchten. Die Bilder sind in Öl auf Leinwand gemalt, aber
sie geben eine traditionelle chinesische Tuschemalerei wieder,
gemalt auf saugendem Reispapier. Außerdem steht diese Wiedergabe der
Tuschemalerei nicht direkt vor Augen, sondern sie scheint hinter
Glas in Vitrinen eingeschlossen zu sein, 5 Vitrinen rechts und 5
Vitrinen links. Das Glas lässt das Licht unterschiedlich durch – man
muss sagen: das scheinbare Glas und das scheinbare Licht. An den
Rändern bilden sich – scheinbar – die verschiedensten Spiegelungen
und Schatten. Außerdem sind alle Tuschelinien sehr weich und
verschwommen. Das lässt sich ganz offensichtlich nur so erklären,
dass das Glas nicht ganz klar durchsichtig ist, sondern eine Art
Milchglas.
Der
Effekt ist, dass man sich alles, was man sieht, zum großen Teil
vorstellt: die dunklen Spuren des Tuschpinsels, das leicht gelbliche
Papier. Es gibt auch hauchartige rote Spuren von kaiserlichen
Stempeln, die im hellen Himmel zu erahnen sind. Und zugleich stellt
man sich vor: riesige Berge, Tannenbäume, ein Gewässer, eine Brücke.
Das gelbliche Weiß des „Papiers“ (wie gesagt, es ist ja Ölfarbe)
verwandelt sich in einen Himmel mit unendlicher Tiefe, und dieser
dunstige Raum fließt vor den Bergen herab in die Felsen
hinein und erfüllt als lichterfüllter Dunst die Tiefe vor den Bergen
und die Räume zwischen den Bäumen. Die dunstige Helligkeit wird
positiv, sie wird ebenso wichtig wie all die Gegenstände, die wir
erahnen. Sie wird, je länger wir die Bilder betrachten, zunehmend
wichtiger.
Hier
erst, bei diesem unentwirrbaren Ineinandergreifen der verschiedenen
Illusionen – Tuschemalerei, Milchglas, perspektivische Tiefe usw. –,
läuft die malerische Kunst von Chao-Kang Chung sozusagen zur
Höchstform auf. Alles verblasst in den Transparenzen und Reflexionen
und taucht in eine weißlich-graue Helligkeit ein. Tatsächlich ist
die verwendete Farbe nicht Grau, gemischt aus Weiß und Schwarz,
sondern man verspürt soeben noch die Einmischung farbiger Töne,
gelblich, bläulich, rötlich. In ihrer Mischung nehmen sie einander
die Farbkraft und lösen sich zu hell-schattigen Dämmerungsstufen und
kalkig-blassen Dunstschleiern auf. Dieses gemalte, verschieden
schattige Weiß verschmilzt sogar mit dem Weiß der realen Wand
außerhalb des Bildes, die ja auch nicht wirklich weiß ist, sondern
von Schattierungen getönt.
All
diese sich andeutenden Sehmöglichkeiten greifen in der Wahrnehmung
untrennbar ineinander. Mit großer Raffinesse verschmilzt Chao-Kang
Chung das Weiß des chinesischen Rollbildes mit seiner räumlichen
Tiefe und mit den blassen Reflexionen des Glases und mit den
perspektivisch begründeten Licht-Schatten-Effekten. Im ersten und
größten Bild tritt ein felsiger Berg relativ nahe nach vorne zum
Betrachter. Im zweiten sehen wir fast nur ungegenständliches Weiß,
das aber die räumliche Helligkeit des ersten Bildes fortsetzt und
sie in eine unermessliche Tiefe steigert. Im dritten Bild sehen wir
nahe vor uns eine Brücke und vermuten daher ein Tal, sicherlich mit
Wasser, und eine Verbindung von zwei Erhebungen. Im vorletzten Bild
ahnen wir – noch weiter von uns entfernt (auch durch die Perspektive
der Bilder) – wieder eine hohe gebirgige Erhebung. Dadurch, dass wir
uns die Höhe des Gebirges weitgehend vorstellen – mehr noch als im
ersten Bild – erscheint uns die Erhebung sogar noch höher. Und im
letzten Bild, das auf den ersten Blick so gut wie leer ist,
erscheint der helle Raum sogar noch weiter und unendlicher als in
den Bildern davor (wenn es diese Steigerung von „unendlich“
überhaupt gibt).
Chao-Kang Chungs Höchstform seiner malerischen Kunst zeigt sich auch
in den unterschiedlichen Helligkeitsgraden des „Glases“ und seiner
Ränder mit ihren verschiedenen Reflexionen. Sie zeigt sich auch in
der malerischen Qualität des Milchglas-Effekts. Der Künstler
erzählte mir, er habe jede angedeutete dunkle Tusche-Linie erst
einmal mit dem Pinsel gezogen, sie dann nochmal nachgezogen und
danach mit einem anderen Pinsel wieder verwischt, und diese Prozedur
des Malens und wieder Verwischens habe er 3- bis 5-mal wiederholt.
So brauchte er für den Verlauf einer einzigen Linie etwa 10 Minuten.
Und zu
all diesen Strategien der Verwandlung von Tusche- in Ölmalerei, des
Zitierens chinesischer Andeutungskunst, der Verdeckung durch Glas,
der Transparenzen und Reflexionen dieses Glases und der
Illusionierung von Tiefenfluchtung kommt dann noch eine weitere
Irritation: die Spiegelung der fünf rechten Bilder in den fünf
linken. Sie wiederholen nicht bloß die rechte Bildreihe, sondern
zeigen andere Lichtnuancen und Transparenzen. Was ist hier das
Vorbild und was die Wiederholung?
Es gibt
dann noch eine weitere „Schicht“ der Auflösung des Gegenständlichen
– nämlich die Auflösung des Bildes selbst als realer Gegenstand. Die
Bilder sind lediglich Darstellungen von sich selbst – als
Wandvitrine, als Schaukasten, scheinbar in perspektivischer
Tiefenfluchtung. Diese Tiefen-Täuschung wird durch den
trapezförmigen Umriss des Bildes so sehr verstärkt, dass die
Illusion der räumlichen Schräge wichtiger wird als das reale, flache
Bild-Objekt. Was man als Körper des Bildes erkennt, ist „nur
gemalt“.
Diese
Negation alles Festen und Greifbaren führt, wie ich meine,
auch wieder zu etwas Positivem. Ich erlebe die Verluste und
unausweichlichen Auflösungen in diesen zehn Bildern nicht als
Abwesenheit und Negation, sondern als ein positives Sich-Steigern,
als Crescendo einer Helligkeit, die alles Einzelne zunehmend auflöst
und übersteigt, ohne es ganz zu entwerten. Das Gewicht der
Helligkeit geht über alles Einzelne hinaus. Deshalb ist es
substanzlos und nicht benennbar. Aber es ist positiv, es ist
präsent. Chao-Kang Chung bestätigt, dass in diese zunehmende
Aufhebung des Dinglichen Vorstellungen des buddhistischen Zen
eingegangen sind. Auch das Wort „Helligkeit“ oder das Wort „Licht“
passt eigentlich nicht. Dieses Immaterielle erhebt sich als
sozusagen diesige Gleichwertigkeit über alles Einzelne. Es erscheint
als etwas Positives, weil es entsteht.
Ich kenne viele Absolventen der Kunstakademie, die bei einer solch
durchdachten und überzeugenden Malweise erst einmal stehen bleiben
würden, die ihre Möglichkeiten ausschöpfen und variieren würden. Die
Ausstellung hier zeigt aber, dass Chao-Kang Chung immer wieder
andere Vorgehensweisen erprobt. In der Mitte des Raumes hängt ein
dunkles Bild mit dem Titel „Ungläubiger Thomas“, ebenfalls aus
diesem Jahr. Chung hatte bereits 2015 nur dunkle Bilder gemalt.
Alles Gegenständliche wurde von einem nächtlichen Dunkel weitgehend
verschluckt. Hier nun sehen wir ein Bild, in dem aus dunklem
Hintergrund drei Figuren hervortreten, die sich auf eine bestimmte
Stelle konzentrieren. Chung zitiert hier ein berühmtes Gemälde von
Caravaggio, „Ungläubiger Thomas“.
Caravaggio, Ungläubiger Thomas, 1601-02; Neues Palais, Potsdam
Nach
der biblischen Erzählung wird der ungläubige Thomas zum gläubigen,
weil er die Wunde Christi berühren kann. In Chungs Bild ist das
einzige, was glaubhaft und realistisch wirkt, der Rand des Gemäldes,
den man von der Seite hinter Glas erkennt. Man meint, ihn berühren
zu können. Die Vorderseite des Gemäldes lässt dagegen die
Thomasszene nur ahnen. Sie ist undeutlich und erscheint wieder
verschwommen hinter Milchglas. Ich könnte mit Ihnen noch eine halbe
Stunde darüber sprechen: Was ist glaubhaft? Was ist Glaube? Was
erkenne ich? Was ist vorstellbar? Was ist das Unvorstellbare. Und
ist das, was unvorstellbar ist, was nicht sichtbar ist und schon gar
nicht begreifbar, vielleicht das eigentlich Wichtige – viel
wichtiger als die gegenständliche Oberfläche? Es ist ein Gemälde,
mit dem Chung sehr tief in die christliche Religion eintaucht.
Ein
weiteres Bild hier im Raum vereint die neodadaistische
Unvereinbarkeit eines dreiteiligen Sigmar-Polke-Bildes im Dunst
seiner hellgrau-transparenten Verschwommenheits-Illusion.
Im Gang
sehen wir ein vierteiliges Werk: „Qing Ming-Rolle“. Durch
europäische Fenster sehen wir hinaus auf ein vielfältiges
Alltagstreiben auf der Straße – wieder dargestellt auf einer der
berühmtesten Bildrollen der chinesischen Tuschemalerei aus dem 12.
Jh. Die chinesische Malerei zeigt einen großartigen Realismus, der
jedoch entrealisiert wird durch die realistischen Fenster in
europäischer Ölmalerei. Zwei völlig gegensätzliche Sichtweisen
durchdringen einander in hartem und fast schmerzlichem Widerspruch –
dabei aber zugleich ganz still und unauffällig.
Im
dritten Raum hängt gleich links ein fünfteiliges Werk: „Wenn die
großen Meister keine Farben hätten“. Die inneren gläsernen
Einteilungen von Glasvitrinen (in Ölfarbe gemalt) zeigen
Kompositionen, die (von rechts nach links) von Mondrian, LeWitt,
Malewitsch, Stella und Palermo stammen könnten. Doch es gibt keine
Flächen, Konturen und Farben. Die „Bilder“ lösen sich auf in
gespiegelte Transparenzen. Was wir „sehen“, sind farblose und
abstrakte lineare Gerippe, scheinbar aus Glas und scheinbar erfüllt
von kühlem Dämmerlicht – und von unseren Erinnerungen an die
Meisterwerke des 20. Jahrhunderts.
Chungs
letztes großes Werk in der Ausstellung besteht aus 4 Bildern, je 2
und 2 einander gegenüber. Das Grundmotiv ist ein schwarzer Rahmen,
der durch ein schwarzes Fensterkreuz unterteilt ist. Seine vier
Flächen mit farbigem Glas – rot, gelb, blau grün – erinnern an das
Windows-Zeichen von Microsoft, auf das bereits Gerd Blum zu sprechen
gekommen ist. Die schwarze Strenge hat vielleicht auch etwas
Sakrales und könnte an Kirchenfenster erinnern. Hier fließt das
weiße Licht der Umgebung nicht durch die gläsernen Wände einer
Bildvitrine in deren Inneres. Obwohl die Gläser transparent sind,
wirkt das Innere hart abgeschlossen – eine Welt für sich. Im
farbigen Glas wird schemenhaft ein schmales vertikales Fenster
sichtbar, dessen Glas dunkel ist. Es stammt von der Aufnahme eines
absolut versiegelten Raumes von Gregor Schneider:
Gregor
Schneider, HIGH SECURITY AND ISOLATION CELL No. 2, 2005
Man
muss die Herkunft aber nicht
kennen, um die Verschlossenheit und
Leblosigkeit zu sehen. An der Wand gegenüber hängen zwei weitere
Bilder, die dieses hart abgegrenzte Bilderpaar spiegeln und in eine
weiß durchlichtete Vitrine einfügen. Sie verstärkt noch den
Gegensatz zum schwarz verschlossenen „Window“. Der Raum, zu dem uns
diese schwarzen Fenstern führen und zu dem sie uns nicht
führen, den sie versperren, ist bedrohlich, unerreichbar, fern, aber
in seiner schwarz gefassten Farbigkeit und Hintergründigkeit auch
sehr gegenwärtig und faszinierend.
Im Gang
begegnen wir beim Hinausgehen einem Bild, in dem uns ein Gegenstand
in – man kann sagen – unverschämter Aufdringlichkeit in den Blick
rückt. Sie werden ihn selbst entdecken.
Wenn wir schließlich in den Raum mit den sogenannten
„Blumenstillleben“ von Joachim Schulz gehen, so erleben wir auch
hier, dass wir nur auf den ersten Blick glauben, man könne
erkennen, was man in den Bildern sieht. Ich meine eigentlich:
Man kann es nicht einmal auf den ersten Blick.
Chao-Kang Chung,
Ungläubiger Thomas, 2018
Chao-Kang Chung,
Windows, 2018
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